Nach Angaben der Vereinten Nationen waren im Jahr 2016 mehr als 65 Millionen Menschen auf der Flucht. Davon leben mehr als 40 Millionen Menschen weiter im eigenen Land, als sogenannte Binnenflüchtlinge. Ein großer Teil der Menschen flüchtete zudem in die Nachbarstaaten. Die Geflüchteten wollen in der Nähe bleiben, wollen zurückkehren, wenn die größte Gefahr für ihr Leben vorbei ist.

In diesem Web-Dossier erzählen wir Ihnen fünf Geschichten von Geflüchteten in Niedersachsen. Die Gründe ihrer Flucht sind vielfältig, oft kommen mehrere Ursachen zusammen. Ihre Geschichten stehen repräsentativ für viele Menschen, die in Niedersachsen Schutz suchen. Gleichzeitig möchten wir zeigen, was wir hier – zwischen Harz und Nordsee – mit den Ursachen ihrer Flucht zu tun haben. Wir sind direkter beteiligt, als vielen bewusst sein mag.

Die häufigsten Fluchtgründe heute sind: Krieg, Verfolgung, Armut, Unterdrückung, Perspektivlosigkeit und die Auswirkungen des Klimawandels. Welche Rolle spielen wir dabei?

Koloniales Erbe

infografik einleitung

Historisch hat der Kolonialismus bis heute Spuren in vielen Regionen der Erde hinterlassen. Beispielsweise legte die willkürliche Aufteilung Afrikas unter den europäischen Kolonialmächten 1884/85 auf einer Konferenz in Berlin die Grundlagen für die Staatsgrenzen Afrikas. Die mit dem Lineal gezogenen Grenzen zwangen die vielen Völker in ein starres System mit rund 50 Staaten. Zudem verfolgten die meisten Kolonialmächte die Politik des „Teilen und Herrschens“, sie machten eine Volksgruppe zur Elite, um das ganze Land beherrschen zu können. Nach den Unabhängigkeitserklärungen der afrikanischen Staaten sorgte dieses Erbe für unfassbare Folgen, etwa 1994 beim Völkermord in Ruanda.

Fluchtursache Nummer 1: (Bürger-)Kriege und Verfolgung

Kriege und staatliche Verfolgung zwingen Millionen Menschen zur Flucht. Waffenlieferungen befeuern zwischen- und innerstaatliche Konflikte. Deutschland gehört seit Jahren zu den größten Waffenexporteuren der Welt. Auch Niedersachsen ist Standort von Rüstungsfabriken, etwa Rheinmetall in Unterlüß oder dem U-Boot-Bau in Emden. Im Jahr 2016 hat die Bundesregierung Rüstungsexporte im Wert von 6,85 Milliarden Euro genehmigt. Vorgeblich verfolgt  sie eine restriktive und verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik. Aber es gibt viele Beispiele für den Einsatz deutscher Waffen in Kriegen und bei staatlicher Repression: Die Türkei setzt deutsche Panzer gegen Kurden in Syrien ein, trotz des Kriegs im Jemen und einer kritischen Menschenrechtssituation erhielt Saudi-Arabien jahrelang Rüstungsgüter aus Deutschland, und auf dem Tahir-Platz in Kairo kamen Radpanzer vom Typ Fahd, gebaut mit deutschen Lizenzen, zum Einsatz gegen Demonstrant*innen. Deutschland  - und damit auch Niedersachsen - verdient also  kräftig mit an Konflikten dieser Welt.

Armut und Perspektivlosigkeit vertreiben Menschen aus ihrer Heimat

Die Globalisierung hat Gewinner und Verlierer. Das sehen wir in Deutschland, aber auch weltweit. Unsere Konsum- und Produktionsweise sind weder ökologisch noch sozial verträglich, sie haben direkte Auswirkungen auf uns und vor allem auf Menschen im Globalen Süden.

So paradox wie es klingen mag, manchmal kann auch Reichtum eine Fluchtursache sein. In vielen Ländern Afrikas profitiert neben transnationalen Konzernen nur eine kleine Elite vom Reichtum der vorhandenen Bodenschätzen wie Öl, Seltenen Erden, Gold oder Edelsteinen. Die Bevölkerung gewinnt nichts, sondern trägt die Kosten der Zerstörung, die der Raubbau an den Bodenschätzen hinterlässt. Und mit jedem Handy, mit jedem Edelstein wird die Ungerechtigkeit zementiert und der Schaden vergrößert. Das gilt für den Einkauf privater Haushalte genauso wie für die Beschaffung von Unternehmen, Vereinen oder staatlichen Einrichtungen.

Ausländische Investoren graben aber auch der lokalen Bevölkerung den Zugang zu Ackerland und Wasser ab. Oftmals bieten ihnen Regierungen Land an, das als ungenutzt gilt. Tatsächlich wird es aber meist von mittellosen Kleinbäuerinnen und -bauern zum Anbau von Nahrungsmitteln genutzt. Die Agrarkonzerne bauen dann z. B. Getreide für Biosprit oder Futtermittel für den Export an.

Europas führender Importhafen für Futtermittel ist in Brake, einem kleinen Ort an der Weser. Von hier gelangt ein großer Teil der fast sieben Millionen Tonnen Sojaprodukte, die jährlich nach Deutschland importiert werden, in die Futtertröge der Massentierhaltung in der Weser-Ems-Region. Denn in Sachen Fleischproduktion ist Niedersachsen Agrarland Nummer 1. Die katastrophalen Folgen, die der Import des Gen-Sojas für Kleinbäuerinnen und -bauern in Brasilien und Argentinien hat, ist nur eine negative Seite der Fleischproduktion in Niedersachsen

Neben den massiven Umweltauswirkungen und den Problemen beim Tierwohl, was wir hier vor Ort feststellen, gibt es noch eine weitere negative Folge für die Menschen im Süden: Die Exporte von Milchpulver oder Geflügelteilen zerstören Existenzen, u.a. in Westafrika. Möglich wird dies auch durch Handelsabkommen etwa der EU mit afrikanischen Ländern, die die Ungleichheit verfestigen. 

Ein weiteres Beispiel: Ocean Grabbing. Vor der afrikanischen Küste, etwa in Marokko, Senegal oder Namibia, raubt der industrialisierte Fischfang abertausenden Fischern die Existenzgrundlage und zerstört die dazugehörige kleinteilige Wirtschaft. Ein großer Teil der Boote fährt unter der Flagge von EU-Staaten, der Fang landet oftmals als billiger Fisch auf unseren Tellern. Nebenbei werden dabei ganze Ökosysteme zerstört.

Der Klimawandel als Fluchtursache heute und in Zukunft

wimmelbild_lueneburgAuch in Niedersachsen bekommen wir die Auswirkungen des Klimawandels zu spüren. Allerdings haben wir Geld und Technik, um beispielsweise Deiche zu festigen und Häuser auf Stelzen zu stellen. Bangladesch nicht. Die reichsten Länder sind die Hauptverantwortlichen des Klimawandels, die ärmsten Länder tragen die größte Last daran.

Der Klimawandel treibt heute schon weltweit mindestens 20 Millionen Menschen in die Flucht. Eine einzige Katastrophe – eine Dürre, Überschwemmung oder ein Sturm – kann die Heimat und die Lebensgrundlagen zerstören. Auch schleichende Prozesse wie der ansteigende Meeresspiegel, schmelzende Gletscher und Wüstenbildung bedrohen Existenzen. Sie werden  in Zukunft die Umsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen unumgänglich machen.

So werden künftig Wanderungsbewegungen infolge des Klimawandels zunehmen. Bis zur Mitte des Jahrhunderts könnten zwischen 200 Millionen und einer Milliarde Menschen gezwungen sein, ihre Heimat zu verlassen. Ein wesentliches Problem: Für Menschen, die klimabedingt fliehen, existieren weder Schutznormen noch zuständige Institutionen. Im völkerrechtlichen Sinne gelten sie nicht als Flüchtlinge.

Die EU zieht einen „Ring um Europa“

Gründe für Flucht gibt es viele – Tendenz steigend. Und wie reagieren Europa und Deutschland?

In den letzten Jahren hat Europa massive Grenzkontrollen zwischen afrikanischen Ländern durchgesetzt, um „irreguläre Migration“ zu unterbinden. Deutschland rüstete beispielsweise die Sicherheitsbehörden in Niger aus. Die Prüfung von Asylanträgen soll künftig in die Herkunfts- und Transitländer verlagert werden. Die Zahlung von Entwicklungsgeldern wird an deren Kooperationsbereitschaft bei der Migrationskontrolle gekoppelt. Dabei verhandelt die EU oftmals mit autoritären Regimen, die weder die Menschenrechte ihrer Bevölkerung achten, noch die der Migrant*innen und Flüchtlinge. Libyen und Ägypten etwa erhalten offizielle Entwicklungsgelder aus dem EU-Treuhandfonds für Afrika für den Ausbau ihrer Grenzkontrollen.

Anstatt sich abzuschotten, fordert der VEN nachhaltige Investitionen in die Zukunft der Menschen in ihren Herkunftsländern und legale Migrationsmöglichkeiten nach Europa. Vor allem dürfe die europäische Verantwortung nicht ausgeblendet werden, denn mit ihren Rüstungsexporten, ihrer Handels-, Klima- und Agrarpolitik trägt die EU zu den Fluchtursachen bei.

Was ist in den letzten Jahren nicht alles zu der sogenannten Flüchtlingskrise geschrieben worden. Dabei hat sie gleich mehrere Bedeutungen: Fluchtbewegungen können Krisen auslösen. Vielmehr noch aber bedeutet es: Wer flüchtet, steckt in einer Krise. Flucht ist immer das Ergebnis einer Krise. Beim Entstehen dieser Krisen, sind die Länder Europas und der restlichen sogenannten westlichen Welt maßgeblich beteiligt, auch wir in Niedersachsen.

VEN-Positionen: Flucht und Migration

Factsheet: Flucht und Vertreibung

 

Grafik: Verband Entwicklungspolitik Niedersachsen e.V.

Logo WBE Symbol web

eine-welt-promotoren-button

 

30 Jahre Button